Rezension: Der Krieg und das Mädchen | Jürgen Seidel

"Noch schläft der Krieg und träumt von tausendfacher Not. Doch nur die Zeit, bis er sich aus den blut'gen Federn wälzt. Schon morgen wetzt er wieder seine Klingen und erntet Sieg um Sieg, die aber keines Menschen Freude wecken. denn siegen wird auch diesmal nur der tausendfache Tod." ~ Zitat S.29

Ein kleiner Einblick in den Klappentext:

August 1914. Endlich hat der große Krieg, den alle kommen spürten, wirklich begonnen. Das junge Paar Fritz und Mila wird gemeinsam mit so vielen anderen in den Taumel aus Kriegsbegeisterung und Feindseligkeit hineingerissen. Doch auch zwischen den beiden scheinen sich unkontrollierbare Gefühle zu erheben: Fritz erhofft sich vom Krieg eine Art Reinigung von verbotenen Gefühlen, die er nicht mal Mila anvertrauen kann, und meldet sich freiwillig an die Front. Und Mila bekommt plötzlich heftige Anfeindungen zu spüren, weil ihr Vater Franzose war und Frankreich jetzt als »Erbfeind« gilt. Als ein als Franzosenhasser bekannter Lehrer stirbt, kommt Mila in Untersuchungshaft. Hochverrat – schnell steht die Anklage im Raum ...

Meine Gedanken zu dem Buch:

Jürgen Seidel war mir vor diesem Buch ehrlich gesagt als Autor noch völlig unbekannt. Daher bin ich ohne große Erwartungen oder Vorbehalte an dieses Buch herangegangen. Umso mehr war ich dann über seine wunderbare Art zu erzählen überrascht und es wird auf jeden Fall nich das letzte Buch sein, das ich von ihm gelesen habe.

Erzählt werden die Erlebnisse einer Gruppe Jugendlicher in der Phase unmittelbar vor dem 1.Weltkrieg. Da ist zum einen Mila, die als Mädchen in einer Zeit aufwächst, wo aufgrund von einigen starken und selbstbewussten Frauen das klassische Rollenbild der Frau anfängt Risse zu bekommen. Sie lebt allein mit ihrer Mutter in einer kleinen Mietwohnung und ihr verstorbener Vater war Franzose. Möglicherweise ist diese Abstammung auch der Hauptgrund für ihre Bestrebungen nach freiheitlichen Gedanken, denen sie einen entsprechenden Raum durch die Gründung des Künstlerkreises die "Somnambulen" geben möchte. 
Zu diesem Künstlerkreis gehört neben einigen anderen jungen Männern auch Fritz, den mit Mila bis zu einem einschneidenden Erlebnis mehr als nur Freundschaft verbindet, ohne dass diese Beziehung bisher intimere Kontakte erlebt hätte. Diese ersehnt sich Fritz nach besagtem Erlebnis lieber mit seinem Kameraden Raums Bloemacher

"Er hatte auf Bloemachers Oberlippe schauen müssen, auf ihren schönen Schwung, der ihm nie zuvor aufgefallen war, auf die feinen Linien in der zartrosa Haut, nur für Bruchteile von Herzschlägen, länger wagte er es nicht." ~ Zitat S.50
Diese Gefühle führen Fritz gleichsam in einen heftigen inneren Konflikt, da er es nicht als normal, sondern als krankhaft empfindet, solche Gefühle gegenüber einem anderen Jungen zu entwickeln. Sowohl Mila als auch Fritz haben mit ihren Prägungen massiv zu Kämpfen in einer Zeit, die noch weit entfernt von liberaleren Gedanken bezüglich Gleichberechtigung von Frauen oder gleichgeschlechtlichen Beziehungen ist. Für Mila nimmt ihr Leben eine dramatische Wendung, als sie auf einer Zugfahrt in die Ferien auf die aufgeschlossene und sehr emanzipierte Sheena trifft, welche Mila sofort aufgrund eben dieser Eigenschaften bewundert. I

hre Wege trennen sich nach Milas Gefühl viel zu schnell, doch bleiben sie fortan auf andere Weise sehr intensiv verbunden, da Sheena ihr brisante Unterlagen untergeschoben hat. Um diese Unterlagen entwickelt sich ein Machtspiel außerhalb der rechtlichen Ordnung, in deren Mühlen nun auch Mila und ihre Mutter landen. Die Verbindung durch den Vater zum Erzfeind Frankreich wird zum Anlass genommen, in Verbindung mit den Dokumenten und den Beziehungen von Sheena zu der Kriegsgegnerin Bertha von Suttner hier einen Verdacht auf Hochverrat zu inszinieren, der Milas Mutter ins Gefängnis bringt. Fritz hingegen quält sich mit seinen Gefühlen und sieht für sich immer mehr den Ausweg aus dieser Krankheit in der nahenden Einberufung an die Kriegsfront.

Kurz & gut - mein persönliches Fazit 


Wie anfangs schon erwähnt, war ich überrascht, aber vor allem begeistert über den besonders für ein Jugendbuch sehr schönen und durchaus auch anspruchsvollen Schreibstil. Mir persönlich hat es große Freude bereitet, hier mal wieder die Vielfalt und Schönheit der Sprache erleben zu dürfen. In einer Zeit, wo einige Verlage sich durch Übersetzungen in eine "moderne" Sprache für die Jugend versuchen (siehe z.B. Tolkiens Werke), ist es wirklich eine Wohltat und lobenswert, dass Seidel hier in einem Jugendbuch zeigt, wie schön, vielfältig und kraftvoll die deutsche Sprache sein kann, ohne dabei zu abgehoben zu formulieren. Ich habe das lesen auch immer ein Stück weit als Herausforderung verstanden und will nicht glauben, dass die heutige Jugend nicht ebenfalls dazu bereit ist...aber durch Rechtschreibreform und Neuübersetzungen machen wir es ihnen zu einfach und geben ihnen dafür erst gar nicht mehr Gelegenheit.

Als weiteres positives Fazit nehme ich aus diesem Buch mit, dass es hier gelingt, dass doch schwierige und oft auch trockene Thema erster Weltkrieg in eine Form zu packen, die einem zum einen die Denkweise in dieser Zeit näher bringt, zum anderen aber auch deutlich macht, wie der Geist des Widerstandes in solchen Zeiten immer wieder mit allen Mitteln unterdrückt werden sollte.

Hier sehe ich auch die zentrale Botschaft des Buches: seht, was Krieg mit den Menschen macht, wie sie den Kopf für die Ziele der Machthaber hinhalten müssen. Sicherlich keine neue Botschaft, aber in diesem Buch nach meinem Empfinden sehr gut transportiert. Leider geht es mir zum Schluss des Buches persönlich etwas zu schnell. Hier hätte ich mir sehr die eine oder andere Zeile mehr gewünscht bezüglich der Einzelschicksale der lieb gewonnenen Personen. Insgesamt aber von mir eine klare Leseempfehlung für alle, die sich der Thematik erster Weltkrieg in einem großartigem Sprachgewand zuwenden möchten, ohne auch mal leichte Und unbeschwerte Töne vermissen zu müssen. Schließen möchte ich mit dem wohl eindringlichsten Zitat in diesem Buch, welches von Bertha von Suttner stammt:
"Keinem vernünftigen Menschen würde es einfallen, einen Tintenfleck mit Tinte oder einen Ölfleck mit Öl auswaschen zu wollen. Aber Blut soll immer wieder Blut auswaschen." ~ Zitat S.127




© Rezension: 2014, Christian Köhne




Der Krieg und das Mädchen - von Jürgen Seidel, erschienen im cbj Verlag

24. Februar 2014 / gebunden mit Schutzumschlag / 480 Seiten 
ISBN 13: 978-3-570-15763-3


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